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Filmkritik
Kai (Louis Hofmann) lebt mit seiner Frau Ayse (Canan Kir) und seiner kleinen Tochter Jenny (Pola Friedrichs) in einer kleinen Wohnung in einem tristen Viertel von Duisburg. Der 24-jährige Familienvater zerlegt wie sein Onkel Andy (Sascha Alexander Geršak), bei dem er seit dem Unfalltod der Mutter aufgewachsen ist, in einer Fabrik Schweinefleisch. Mit der harten Arbeit versucht er sich und seine Familie durchzubringen, doch der Lohn reicht hinten und vorne nicht. Als sein krimineller Bruder Mirko (Franz Pätzold) aus dem Gefängnis entlassen wird, gerät Kai in die Klemme. Denn er hat den Großteil der 10.000 Euro, die ihm sein Bruder anvertraut hat, heimlich für Jennys Augenoperation und Pferdewetten ausgegeben. Wie soll er innerhalb weniger Stunden plötzlich so viel Geld auftreiben? Es kommt noch schlimmer: Mirko zwingt ihn, wie früher als Drogenkurier zu arbeiten.
Ein dichtes Montage-Geflecht
Der Debütroman „Fresh“ des schottischen Schriftstellers Mark McNay gewann 2007 auf Anhieb zwei Buchpreise und begeisterte die Kritiker. Dennoch hat es 17 Jahre gedauert, bis der spannende Stoff fürs Kino adaptiert wurde. Der US-Regisseur Damian John Harper, der seit 2007 in Deutschland lebt, hat sich der Geschichte einer brüderlichen Hassliebe angenommen und vom schottischen Royston nach Duisburg verlegt. Im Großen und Ganzen behält der Film den Plot der Vorlage bei. Allerdings reduziert Harper die humoristischen Komponenten und verstärkt stattdessen die Thriller-Elemente. Das Ergebnis ist ein hochstilisiertes Krimidrama, das nachts oder im Dunklen spielt, eine enorme Spannung aufbaut und vor krassen Gewaltspitzen nicht zurückschreckt.
Einfach macht es Harper dem Publikum nicht. Es dauert eine Zeitlang, bis man nach dem kurzen Prolog versteht, dass das dichte Montage-Geflecht der Erzählung aus drei Zeitebenen besteht, zwischen denen die Regie munter hin- und herspringt. Während die Gegenwart mit der Rückkehr des Häftlings die Ausgangslage markiert, greifen Rückblenden immer wieder in die schmerzliche Kindheit und die wilde Jugend der beiden Jungen zurück, als sich der zu Wutausbrüchen und Brutalitäten neigende Mirko immer wieder schützend seines jüngeren Bruders angenommen hat, wenn der in der Schule verprügelt wurde.
Harper erzählt das Brüderdrama aus der Sicht von Kai, der sich bemüht, ein friedfertiges Leben zu führen, aber von Mirko daran gehindert wird. Was in Kais Kopf vorgeht, erfährt man durch seine Erzählerstimme, aber auch durch eine Art innerer Monolog, den der Schauspieler Ralf Richter mit unverkennbarem Ruhrslang aus dem Off spricht und darin ein überholtes Männerbild transportiert. Manchmal gibt diese markante Stimme Kai sogar Ratschläge. Als Ayse ihren Mann auffordert, seinem ehemaligen Freund Selo (Zejhun Demirov), der jetzt bei der Polizei ist, telefonisch einen Tipp zu geben, empfiehlt Richter aus dem Off: „Sag ihr, dass sie recht hat.“ Kai zögert kurz und meint dann: „Du hast recht.“
Wie Winnetou und Old Shatterhand
Im Zentrum von „Frisch“ steht die trotz ihrer konträren Persönlichkeiten enge Bindung der Brüder. Die Kinder, die früh Vater und Mutter verloren haben, sind buchstäblich Blutsbrüder. Mehrmals schauen sie im Fernsehen „Winnetou“-Filme und identifizieren sich als Old Shatterhand und Winnetou. „Wir Apachen halten zusammen“, beschwört Mirko seinen Bruder. Doch als der Jugendliche auf die schiefe Bahn gerät und sich mit dem „Schultyrannen“ Bogdan (Božidar Kocevski) auf kriminelle Geschäfte einlässt, versucht Kai, den Bruder unter Kontrolle zu bringen. Doch der reißt ihn selbst in den Abgrund.
Louis Hofmann und Franz Pätzold verstehen es souverän, die brüderliche Hassliebe glaubhaft zu machen. Während Hofmann als Kai zunächst etwas blass bleibt, wütet Pätzold als Mirko mit einer unbändigen Energie durch den Film. Als Mirko nach der Entdeckung eines Verrats ausrastet und seinen Bruder und dessen Frau bedroht, durchbricht der vermeintlich schwächere Bruder furios seine Grenzen. Auch Sascha Alexander Geršak glänzt als gutherziger, lebenskluger Onkel.
Nach einigen Fernseharbeiten und dem aufwändigen Fantasy-Jugendfilm „Woodwalkers“ kehrt Harper mit „Frisch“ zu seinen Anfängen zurück. In seinem preisgekrönten Spielfilmdebüt „Los Ángeles“ (2014) erzählte er von einem 17-jährigen Mexikaner, der gegen die Gewaltstrukturen der örtlichen Gang aufbegehrt und in die USA migrieren will. Vier Jahre später handelte das düstere Familiendrama „In the Middle of the River“ (2018) von einem Irak-Veteranen, der in seine dysfunktionale Familie im Südwesten der USA heimkehrt. Mit der stilsicheren Verfilmung eines britischen Romans setzt Harper nun neue künstlerische Akzente.
Auf der Spur von Kain und Abel
Das Setting des Ruhrgebiets mit tristen Straßen und maroden Häusern, das kriminelle Milieu und die Faszination von Pferdewetten erinnern an die Krimigroteske „Bang Boom Bang“ (1999). Dazu schlägt auch Richter eine Brücke, der in dem Film von Peter Thorwarth als inhaftierter Bankräuber von einem Komplizen ebenfalls um den Großteil der Beute geprellt wird. Während „Bang Boom Bang“ vor allem von seinem lakonischen Humor lebt, setzt Harper auf Spannung, Tempo und Gewalt. Dabei drückt er aber nicht nur die Knöpfe des Thriller-Genres, sondern erzählt zugleich eine tragische Variation des biblischen Kain-und-Abel-Motivs.