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Filmkritik
Rebecca (Helena Zengel) ist eine Überlebende. Als kleines Mädchen stürzte das Flugzeug, in dem sie mit ihrer Mutter unterwegs war, über dem Amazonasbecken ab. Ihr Körper steckte zwischen Schrottteilen im erdigen Dickicht des Regenwaldes fest. Ameisen bedeckten ihre Hände, aus den Wunden tropfte Blut. Es müssen Tage vergangen sein, bis sie von einem indigenen Mann gefunden wurde. Die Medien feierten ihre Rettung als ein Wunder. Ihr Vater (Yeremy Xido) erlebte dies als eine Art spirituelle Erleuchtung und nutzte ihre Geschichte fortan als Beweis der Gnade Gottes. Auf der Suche nach einem tieferen Sinn und einer ökonomischen Absicherung gründete er mitten im Dschungel seine eigene Mission, eine Art evangelikale Sekte. Auch wenn er selbst predigte, agierte Rebecca als Aushängeschild. Immer wieder musste sie vor den einheimischen Ureinwohnern ihre heilenden Kräfte unter Beweis stellen, was ihr mit auratischer Präsenz und psychologischem Einfühlungsvermögen auch gelang. Erst als Jugendliche beginnt Rebecca an den Absichten ihres Vaters zu zweifeln.
Zwischen allen Stühlen
Helena Zengel lädt ihre Rolle mit einer verführerischen Distanz auf. Glaubt das Mädchen wirklich, dass es übersinnliche Kräfte besitzt? Oder spielt es nur ein ausbeuterisches Spiel mit, das ihr der Vater manipulativ aufgezwungen hat? Ist ihre regungslose Entrücktheit die Folge einer Traumatisierung? Neun Jahre nach dem Absturz weiß sie wenig über ihre Mutter oder die Vergangenheit der Familie. Warum zieht es sie zu den anderen indigenen Teenagern hin? Warum will ihr Vater unbedingt, dass sie der Familie eines Holzfällers hilft, der in der Gegend illegale Abholzung betreibt?
Eine Frau der Kolonialisten ist ins Koma gefallen und liegt im Krankenhaus, während die indigene Bevölkerung nach Protesten dazu übergeht, Straßenblockaden zu errichten. Die Mission gerät mitten in den Konflikt zwischen den waffentragenden Holzfällern und den einheimischen Stämmen, deren Land bedroht ist. Wenn Rebecca seine Frau heile, verspricht der hochgestellte Holzfäller, werde seine Familie mit dem Abholzen aufhören. Der Druck, der fortan auf Rebecca lastet, schärft ihr Bewusstsein dafür, dass sie als Außenseiterin zwischen allen Stühlen sitzt und sich die Bewunderung für ihre Kräfte auch ins Gegenteil wenden könnte.
Drei Gruppen streiten ohne Kompromissbereitschaft um das gleiche Territorium. Rebecca schlägt sich zunehmend auf die Seite der Indigenen, was ihren Vater in eine Krise stürzt, denn ohne sie wird er das Vertrauen seiner Gemeinde nicht lange am Leben erhalten können. Zudem wirbt er auch um die Krankenschwester Denise (Sabine Timoteo), die er zum Bleiben überredet und dadurch die enge Beziehung zu Rebecca gefährdet. Denise erzählt Rebecca von ihrer Mutter, die sie auf einer Krankenstation kennengelernt hatte. So kommt Rebecca dahinter, dass ihr Vater sie über seine Beziehung belogen hat.
Herausforderndes Psycho-Spiel
Pia Marais legt als Regisseurin und Autorin des Drehbuchs meisterlich verwobene Fährten, ohne diese ins Dramatische zu überspitzen. Postkoloniale Fragestellungen von Ausbeutung, religiöser Indoktrination und Vertreibung kreuzen sich mit Rebeccas privatem Verlust ihrer Ursprungsidentität. Marais entwirft ein realistisches Porträt des Assurini-Volkes aus dem indigenen Territorium Trocará, ohne jeden Anflug von exotisierender Idealisierung. Sie beobachtet aus der Entfernung, wie sich die drei Fraktionen gegenseitig benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Inmitten dieser Spannungen reift Rebecca zu einer Frau heran, die ihre eigenen Entscheidungen trifft. Dank des eigenwilligen Spiels von Helena Zengel entwickelt sich das subtil herausfordernde Psycho-Abenteuer, eingerahmt durch die magischen Bilder des Kameramannes Mathieu de Montgrand voller Nahaufnahmen und Lichtspiele sowie eine bedrohlich vibrierende Musik, die einem futuristischen Thriller entstammen könnte.
Atmosphärische, fast surreale Szenen im dichten, dampfenden Wald, auf sandigen Straßen und ruhigen Flussläufen geleiten die sich quälenden Charaktere in die Tiefen ihrer Ängste und Überlebenstaktiken hinab. Wer eine klassische Katharsis erwartet, geht leer aus. Nur Rebecca scheint vorerst von ihrer Rolle als Erlöserin befreit und in der Fremde angekommen.